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Was da Vinci bereits wusste: Ein Blick auf unsere Gesellschaft vor dem Hintergrund der Geschichte

14.01.2014 |  Von  |  Beitrag

Die Gesellschaftsstruktur und das Denken in den westlichen Ländern hat sich in der jüngeren Vergangenheit stark gewandelt.

Grob kann die Entwicklung so beschrieben werden: An die Stelle von kollektivem Denken ist mehr und mehr die Betonung des Einzelnen getreten und einst absolute Werte wurden und werden schleichend gegen Relativismus ausgetauscht. Die Wahrnehmung dieser Umwälzungsprozesse beschränkt sich meist auf die Stärkung der Rechte des Einzelnen, was als positiv angesehen wird. Die Entwicklung hat aber auch einen bitteren Beigeschmack, den man an einigen Gesellschaftssymptomen erahnen und aus der Geschichte deutlich erkennen kann.

Viele Menschen möchten heute individuell sein und das auch nach Aussen hin zeigen. In der jüngeren Geschichte gab es zahlreiche Gesellschaftsbewegungen, die sich für die Rechte des Einzelnen gegenüber allgemein gültigen Wertevorstellungen stark machten und das Besondere, das Individuelle betonten. Werbeslogans, wie „Ich will so bleiben wie ich bin“ oder „weil Sie es sich wert sind“ stehe symbolisch für die Individualisierung der Gesellschaft und auch die Relativierung mancher Vorstellungen. Wo der Einzelne wichtig ist und vielleicht sogar unausgesprochen als das Wichtigste überhaupt angesehen wird, da ist auch die Meinung jedes Einzelnen mit hohem Wert bedacht. Jeder Mensch soll sich eine eigene Meinung bilden können und sich in diesem Prozess immer mehr zum eigenständigen, innerlich gereiften Individuum entwickeln.

Eigentlich eine begrüssenswerte Entwicklung: Jeder wird gehört, niemandem soll etwas aufgezwungen werden und der Mensch soll Kraft seiner Vernunft selbst verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen.

Nicht so unabhängig von Massentrends, wie man es erwarten würde

Diese Entwicklung bringt aber nicht nur Positives mit sich. Es ist beispielsweise bemerkenswert, dass die vermeintlich emanzipierten Individuen sehr stark von Trends und Meinungsmache beeinflusst werden. Ein Beispiel dafür ist die teils verheerende Wirkung, die auf Magazincovers ausgegebene Schönheitsideale auf viele Menschen haben. Hunderttausende fühlen sich mehr oder weniger stark minderwertig, weil sie dem heutigen Bild des schönen Menschen nicht entsprechen. Deutlich wird das am Prozess gegen die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP), der im Jahr 2012 breit durch die Öffentlichkeit ging.

Über zehn Jahre stellte PIP Brustimplantate aus Industriesilikon her, anstatt die teurere medizinischen Variante des Silikons zu verarbeiten. Nachdem einige Fälle von gerissenen Implantaten bekannt wurden, meldeten sich bald hunderttausende Frauen, die sich offenbar innerhalb dieser zehn Jahre die Implantate haben setzen lassen. Damit kam allein PIP mit Hunderttausenden in Berührung, die offenbar mit ihrem Äusseren so unzufrieden waren – ob aus Krankheitsgründen, weil sie ihrem Freund oder Ehepartner nicht mehr gut genug gefielen oder weil sie nicht nahe genug an das Schönheitsideal der Gesellschaft heran kamen –, dass sie sich lieber operativ verändern liessen. Man darf durchaus darüber nachdenken, warum so viele Mitglieder einer emanzipierten Gesellschaft ihr Wohl und Wehe von vergänglicher Schönheit abhängig machen.

Eine Gesellschaft auf der Suche nach Sinn

Insgesamt ist die deutschsprachige Gesellschaft von der Suche nach Anerkennung, Sinn und vor allem einem festen Halt geprägt. Das hohe Aufkommen von Depressionen ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass viele weder das eine, noch das andere fanden.

Schon der florentiener Universalgelehrte Leonardo da Vinci hatte mit dem gleichen Dilemma zu kämpfen. Wie es dem damals aufgekommenen humanistischen Denken entsprach, begann er den Menschen und seine Vernunftbegabung ins Zentrum zu stellen – genau wie es heute stark der Fall ist. Von diesem Standpunkt ausgehend, machte sich Leonardo auf die Suche nach einem Sinn für den Einzelnen und, wie so viele Menschen heute auch, fand er ihn nicht. An seinem Lebensabend kam er in tiefer Verzweiflung an den Hof des französischen Königs Franz I.

Der moderne Mensch im Florenz der Renaissance

Der amerikanische Theologe und Philosoph Francis Schaeffer führte eine umfassende Analyse der westlichen Kultur durch und bemerkt in seinem Buch Wie können wir denn leben?, das vor allem im englischsprachigen Raum viel Beachtung fand: „Wir können eigentlich behaupten, dass wir in das Florenz der Renaissance gingen und den modernen Menschen vorfanden!“ Eine zentrale Beobachtung Schaeffers ist, dass „der Humanismus – der mit dem Prinzip begann, dass der Mensch das Mass aller Dinge ist – dem Menschen letzten Endes überhaupt keinen Sinn geben konnte.“

Leonardo zerschellte sozusagen am Universalienproblem, also der Frage, ob es allgemeingültige Prinzipien wirklich gibt oder ob sie lediglich ein Konstrukt menschlichen Denkens sind und damit keinen verbindlichen Wert besitzen. Er stellte den Mensch in den Mittelpunkt und beantwortete damit das Universalienproblem mit der zweiten Möglichkeit und stellte mehr und mehr fest, dass er ihm damit auch jedweden Sinn raubte.

Die Vergangenheit hat zahlreiche Lehren hervorgebracht. Eine davon, die der moderne Mensch im Hinterkopf behalten sollte, ist, dass übersteigerter Individualismus, dem alle absoluten Werte zum Opfer fallen, dem Einzelnen keinen dauerhaften Wert vermitteln wird.

 

Bild: frizio – Fotolia

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